Ab Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, als Adolf Loos sen. in Brünn als Bildhauer und Steinmetz tätig war, spezialisierte er sich vor allem auf Grabsteine und die bildhauerische Dekoration von Fassaden. Die ganzen sechziger und siebziger Jahre arbeitete er eng mit Josef Arnold (1824–1887) zusammen ‒ einem der bedeutendsten und fruchtbarsten Brünner Baumeister der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Josef Arnold führte eine Reihe Neubauten nach eigenen und fremden Entwürfen durch, und Adolf Loos sen. beteiligte sich an ihnen regelmäßig als Zulieferer von bildhauerischen Fassadenelementen und Stuckdekorationen für die Innenräume. Beide Männer dieser „schöpferischen Zwillinge“ haben auf diese Weise deutlich zum visuellen Aussehen der Brünner Architektur des dritten Viertels des 19. Jahrhunderts beigetragen.
Am häufigsten handelte es sich dabei um blockhafte oder halbblockhafte Stadtpalais im Stil der Neorenaissance des Typs „Hof“, die für Autraggeber aus den Reihen der damaligen reichen Brünner Industriellen bestimmt waren und im Bereich der neu entstehenden Brünner Ringstraße oder in deren Nähe angesiedelt wurden. Zu den bedeutendsten und größten von ihnen zählten das unmittelbar mit dem benachbarten Fabrikgelände (Verwaltungsgebäude des ehemaligen Fabrikgeländes der Wollfabrik Vlněna Brno, Přízova-Str. 1) zusammenhängende Palais von Theodor Bochner von Stražisko; das Eckpalais von Gustav Adolf von Schoeller (Cejl 50); die Mietshäuser von Josef Flor (Jezuitská-Str. 4); bzw. von Adolf Ripka von Rechthofen (Benešova-Str. 8) u.a. Funktional haben diese Bauten als Residenzen ihrer Besitzer (Palais) und gleichzeitig als Mietshäuser gedient. Die Wahl von Neorenaissanceformen war hier keine zufällige: sie ging von dem Verhältnis jener Zeit zur Antike und zur italienischen Renaissance aus, die als Höhepunkt der gesamten europäischen Kunstgeschichte angesehen wurde. Sie sollte auf diese Weise die Kultur der Bauherren betonen und ebenso auch die „Altertümlichkeit“ und die damit verbundene „Würde“ und „Ehrwürdigkeit“ der Familien aus den Reihen der bürgerlich-unternehmerischen „neuen Nobilität“ kundtun.
Gedachter Höhepunkt der Bauten dieses Typs war dann das Palais für das erbliche Mitglied des Herrenhauses Reichsgraf Albrecht von Kaunitz (1829–1897). Der pompöse und seinerzeit ungemein bewunderte Neubau galt als nachahmenswürdige Verkörperung des guten Geschmacks. Loosens Firma, die im Zusammenhang mit der Entstehung des Palais Kaunitz in der zeitgenössischen Presse als „renommirtes Atelier Loos“ (Correspondent XIII, 1873, Nr. 206, 7. 9., S. 3) bezeichnet wurde, hat dort jegliche Bildhauerarbeiten durchgeführt.
Der streng symmetrisch entworfene Dekorationsapparat der Fassadenfront verwendet Motive der spätitalienischen Renaissance. Das Dekor konzentriert sich besonders unter dem Dachgesims mit Balustrade, wo die Fassade von einem durchlaufenden Stuckfries mit dem zentralem Motiv von Frauen- und Männermaskaronen verziert wird. Das Werk von Loos sen. ist auch die figurale bildhauerische Verzierung der reich dekorierten Portale, mit welcher die Achsen der zum heutigen Platz Moravké náměstí und zur Brandlova-Straße gewandten Fassaden bestückt sind und aus dem Wappen der Adelsfamilie Kaunitz (zwei weiße überkreuz angeordnete Seerosenblätter in rotem Feld) bestehen, das an den Seiten von geflügelten Frauenfiguren der antiken Siegesgöttin (Nike) begleitet wird.
Die Tatsache, dass gerade Adolf Loos sen. den Auftrag für die bildhauerische Dekoration einer solch prestigeträchtigen Immobilie wie es das Palais Kaunitz war erhalten hat, verdeutlicht, dass er in der Brünner Umgebung den Ruf eines „in Wien ausgebildeten Kunstbildhauers“ genoss, der dazu in der Lage ist, der Qualität seiner Wiener Konkurrenten gerecht zu werden.
PC