Villa Tugendhat

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Die Villa Tugendhat gilt als eines der Schlüsselwerke der modernen Architektur. Zur Entstehung dieser außergewöhnlichen und formal wie technisch einzigartigen architektonischen Leistung kam es vor allem dank der Zusammenarbeit eines ausgezeichneten Architekten und eines fortschrittlich denkenden Investors. Das junge Ehepaar Greta und Fritz Tugendhat entschloss sich im Jahre 1928 ein eigenes Einfamilienhaus zu bauen, das ihren Vorstellungen von modernem Wohnraum entsprechen würde. Das Grundstück mit einer Fläche von 2 000 m² am Südhang des Stadtteils Černá Pole (Schwarze Felder) bekam Greta als Hochzeitsgeschenk von ihrem Vater Alfred Löw-Beer, einem bedeutenden Textilfabrikanten jüdischer Herkunft. Das Paar begann sich nach einem geeigneten Architekten umzusehen und wandte sich schließlich an Ludwig Mies van der Rohe, dessen deutsche Bauten sie kannten. Der Architekt lieferte bereits Ende des Jahres 1928 den fertigen Entwurf der Villa. In diesem ging er von der Konzeption des deutschen Ausstellungspavillons aus, den er für die Weltausstellung in Barcelona plante und für die konkreten Bedürfnisse der Brünner Bewohner adaptierte. Die Einzigartigkeit des Projekts liegt in der Benutzung einer tragenden Stahlkonstruktion (beim Bau eines Einfamilienhauses zum ersten Mal in der Geschichte), die eine beliebige Gestaltung des Innenraums und eine großzügige Verglasung der Fassade ermöglichte. Das Ergebnis war ein frei fließender Raum der Hauptwohnhalle und deren Verschmelzung mit dem Außenraum dank großflächiger Schiebefenster.
Mit dem Bau wurde im Juni 1929 begonnen und unter der Aufsicht des Architekten wurde er in eineinhalb Jahren von der Brünner Baufirma Mořic und Artur Eisler ausgeführt. Die dreigeschossige Villa wurde in den Hang gesetzt, wobei ihre Hauptwohnräume an der südwestlichen Gartenseite liegen. Die Straßenfassade besteht deshalb nur aus dem dritten Geschoss mit einer elegant eingelassenen Tür sowie einer Garage mit einer Wohnung für den Fahrer; diese auf der Eingangsterrasse angelegten Gebäudeteile umrahmen mit einem gemeinsamen Dach den Ausblick auf die Stadt. An die Eingangshalle schließen die Schlafzimmer der Eltern, der Kinder und der Erzieherin an, die auch auf die obere dem Garten zugewandte Terrasse führen. Über eine Wendeltreppe gelangt man in das zweite Geschoss mit einem fließenden Wohnraum, der dank der großzügigen Verglasung und des Wintergartens visuell in den Außenraum übergeht. Die einzelnen funktionalen Bereiche sind lediglich durch effektvolle Trennwände angedeutet oder durch Vorhänge voneinander getrennt. Die Essecke wird vom restlichen freien Raum durch eine runde Ebenholzwand getrennt, und als Blende zwischen Arbeits- und Sitzbereich dient eine Wand aus marokkanischem Onyx, die bei Sonnenuntergang das Zimmer in rötliches Licht taucht.
Die weitere Einrichtung des Innenraumes wurde vom Architekten gemeinsam mit seinen Kollegen Lilly Reich, Hermann John und Sergius Ruegenberg entworfen und besteht aus Möbeln aus gebogenem Stahl (Brünn-Stuhl, Tugendhat- und Barcelona-Sessel) sowie Einbaumöbeln aus Edelholz, hergestellt von der einheimischen Firma „Standard – Wohnungsgesellschaft“ des Architekten Jan Vaněk. Ein Vorzug des gesamten Wohnraumes ist seine technische Ausstattung, zu der eine ausgeklügelte Klimaanlage gehört, die eine Reinigung der Luft und Erfrischung mithilfe von Meersalz gewährleistet sowie insbesondere die großen Fenster in den Metallrahmen, die als Ganzes im Boden versenkt werden können. Über den Essbereich gelangt man direkt auf die Terrasse, von der eine Treppe in den Garten führt, den die Brünner Gartenarchitektin Markéta Müllerová gemeinsam mit Mies van der Rohe entwarf. Die Nebenräume der Villa sind über einen eigenen Eingang an der Straße zugänglich und bestehen aus einer Küche und Personalzimmern im zweiten Geschoss sowie einer umfangreichen Haustechnik im Souterrain.
Die Meinungen der Fachwelt zu diesem architektonischen Werk gingen allerdings auseinander. Während der amerikanische Architekturtheoretiker Philip Johnson, der für Mies van der Rohe im Jahr 1947 eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art organisierte, das Gebäude mit dem Parthenon in Athen verglich, warfen ihm einheimische Architekten, die gerade die soziale Frage günstigen Wohnraums beschäftigte, Pomp und Luxus vor, der sich in Form teurer Materialien und unangemessener Weitläufigkeit präsentierte. Für den tschechischen Theoretiker Karl Teige stellte die Villa einen Höhepunkt des Snobismus dar und er bezeichnete sie als Sackgasse der modernen Architektur. Die Bewohner des Hauses konnten zwar die Vorzüge des Hauses hochschätzen mussten jedoch leider die Villa aufgrund der nazistischen Gefahr nach sieben Jahren verlassen. Die Tugendhats flohen 1938 in die Schweiz und die Villa wurde von den Nazis als jüdischer Besitz beschlagnahmt. In der Besatzungszeit wurde sie vom Direktor der Klöckner-Werke Walter Messerschmidt genutzt und diente als Konstruktionsbüro der Flugmotorenwerke Ostmark. Nach der Befreiung fiel die Villa für kurze Zeit der russischen Armee zu, die das Haus stark beschädigte.
Bevor das Objekt 1950 in den Besitz des tschechoslowakischen Staates gelangte, wurde hier eine private Ballettschule und später die Rehabilitationsabteilung des nahe gelegenen Kinderkrankenhauses eingerichtet. Dank der Bemühungen des Brünner Architekten František Kalivoda um eine Renovierung der Villa und ihre kulturelle Nutzung steht sie seit 1963 unter Denkmalschutz. Im Jahre 1968 fand in Berlin eine Ausstellung der Werke Ludwigs Mies van der Rohe statt, die teilweise auch in den Räumen des Hauses der Kunst der Stadt Brünn zu sehen war. Bestandteil der Brünner Ausstellung war auch ein Entwurf zur Renovierung der Villa, zu der es jedoch erst im Jahre 1985 nach einem Entwurf von Kamil Fuchs und Jarmila Kutějová kam. Das Gebäude war zu dieser Zeit bereits in Besitz der Stadt Brünn, deren Vertreter die Räume für Besprechungen und die Unterbringung von Besuchern nutzten. Zuletzt diente die Villa im Jahre 1993 politischen Zwecken, als hier der Vertrag über die Teilung der Tschechoslowakei unterschrieben wurde. Seit 1994 unterliegt die Verwaltung des Hauses dem Museum der Stadt Brünn, das es der Öffentlichkeit zugänglich machte. Die Villa wurde zum nationalen Kulturdenkmal erklärt und im Jahre 2001 in die Liste des Kulturwelterbes der UNESCO aufgenommen. Im Sommer des Jahres 2010 wurde nach zahlreichen Verzögerungen mit der notwendigen Renovierung des gesamten Objekts begonnen.

LV, PH